Bericht von Sarah Bernges zur Situation der Familienpatenschaften zu Beginn des Jahres 2017 

 Liebe Mitglieder von Projekthilfe Chile,  

viele von Ihnen werden zu Jahresbeginn die Nachrichten über die Waldbrände in Chile verfolgt haben. Auch in Concepción waren wir davon betroffen. Die Menschen waren verängstigt, in einigen Gemeinden und Stadtteilen Concepcions fiel Asche vom Himmel, und die Luft war voller Rauch.  

Glücklicherweise hat keine der betreuten Familien direkt größere Schäden erlitten – einige der Kinder und Jugendlichen hatten aufgrund des Rauchs Atemwegsbeschwerden und das Haus des Onkels eines Kindes ist komplett abgebrannt. Einen Ausflug mit allen Familien zu einem Tierpark in Quillón hatten wir, unter anderem wegen der im Vorfeld bereits ungewöhnlichen Hitze, zum Glück verschoben. Sonst wären wir wohl im von zwei Bränden umgebenen Quillón für einige Zeit eingeschlossen gewesen und hätten nicht nach Concepción zurückkehren können, da an diesem Tag beide Straßen dorthin wegen der Brände gesperrt wurden. 

Es war eine Situation, die traurig und mich persönlich auch wütend gemacht hat. Denn unabhängig von den ungewöhnlich hohen Temperaturen zu Beginn des Jahres gibt es hausgemachte Gründe für das katastrophale Ausmaß der Brände. Einen großen Teil der Verantwortung tragen die chilenischen Regierungen der letzten 40 Jahre sowie die großen Forstbetriebe.  

Der unkontrollierte Ausbau von Eukalyptus- und Kiefernpflanzungen überall im Land ohne jegliche Sicherheitsauflagen (z. B. Mindestabstand zu bewohnten Gebieten, Brandschutz, etc.) ist einer der entscheidenden Gründe, warum die Brände so außer Kontrolle geraten konnten. Eukalypten und Kiefern trocknen nicht nur den Boden dauerhaft aus, sondern gerade Eukalyptusbäume und Eukalyptusblätter brennen wie Zunder. Es kommt jedes Jahr im Sommer zu Waldbränden, weshalb die aktuelle Situation zumindest teilweise vorhersehbar war. Sie hätte vermieden werden können, wenn die Verantwortlichen rechtzeitig die Bedingungen und Auflagen für die Holzwirtschaft geändert hätten.  

Was hat dies mit der Situation der in den Familienpatenschaften betreuten Familien zu tun? Meiner Meinung nach passt die Haltung des chilenischen Staates bezüglich der Gefahren einer unkontrollierten Forstwirtschaft gut in den Kontext der allgemeinen Sozial- und Gesundheitspolitik. 

Abgesehen von den zwei Tagen, an denen jährlich die Fernseh-Großveranstaltung Teleton stattfindet, evtl. auch noch in dem Monat davor, in dem das Spektakel beworben wird, finden Menschen mit Behinderung kaum Beachtung. Nur wenn die Familien sehr extreme Anforderungen erfüllen, bekommen die Eltern geistig behinderter Kinder eine staatliche Unterstützung von etwa 90 Euro monatlich. Familien mit schwerkranken, körperlich oder sensorisch behinderten Kindern haben kein Anrecht auf diese Unterstützung, sondern bekommen lediglich den doppelten Betrag des chilenischen Kindergelds, d.h. etwa 30 Euro anstatt der regulären 15.  

Obwohl die Lebenshaltungskosten in Chile natürlich immer noch geringer sind als in Deutschland, lässt sich unschwer erkennen, dass diese Beträge verschwindend gering sind. 2016 wurde der monatliche Mindestbedarf an Lebensmitteln pro Person in einem Haushalt mit ca. 60 Euro berechnet und Haushalte, in denen das Pro-Kopf-Einkommen unter 146 Euro monatlich betrug, befinden sich laut dem Sozialministerium unterhalb der Extremen Armutsgrenze. Wenn man jetzt noch bedenkt, dass viele der Betroffenen einen zusätzlichen Bedarf an Medikamenten, Windeln oder speziellen Nahrungsmitteln haben, ist offensichtlich, wie dramatisch die Situation der Familien ist.  

Von den von in den Familienpatenschaften betreuten Kindern und Jugendlichen ernähren sich u.a. die 5-jährige Danya, die an einer Zerebralparese leidet, Sergio, der mehrfachbehindert ist, und neuerdings auch der 17-jährige Marco, weil er aufgrund seiner fortschreitenden Muskeldystrophie Schwierigkeiten mit  dem Schlucken hat, (fast) ausschließlich von Trinknahrung. Marco soll bald eine Sonde eingesetzt bekommen, damit er leichter Nahrung zu sich nehmen kann. Allerdings ist kaum abzuschätzen, wie lange man auf derartige Eingriffe warten muss. Die benötigten medizinischen Geräte stehen nicht in vollem Umfang zur Verfügung und generell sind die Wartezeiten im staatlichen Gesundheitssystem lang. Die Familien werden erst vom allgemeinärztlichen Gesundheitszentrum, das für einen Stadtteil zuständig ist, zum Facharzt im Krankenhaus, das für mehrere Gemeinden zuständig ist, überwiesen. Selbstständige Ärzte können sie mit ihrer Krankenversicherung nicht aufsuchen, oder müssten die Kosten komplett selbst tragen.  

Viele der Mütter sind alleinerziehend und erhalten weder praktische noch finanzielle Unterstützung der Väter. So sind die Mütter oft die einzigen, die alle Dienstwege erledigen, die Kinder großziehen, pflegen und deshalb natürlich nur zeitlich sehr begrenzt außer Haus arbeiten können und kaum ein eigenes Leben haben. Die Mutter des geistig und körperlich schwer behinderten Claudio geht beispielsweise während der drei Monate Sommerferien kaum außer Haus (sie wohnt weit außerhalb des Zentrums von Concepción in einem unsicheren Stadtteil), weil sie ihre Kinder nicht allein lassen will und nicht gerne anderen Personen anvertraut. Viele der Mütter leiden an Depression, die sie aber immer wieder hinten anstellen, um weiter für ihre Kinder kämpfen zu können. Es erscheint oft unvorstellbar, wie die Familien trotz gesundheitlicher Probleme, schwierigen innerfamiliären Verhältnissen und oft allenfalls Gelegenheitsjobs über die Runden kommen, ohne dabei den Lebensmut zu verlieren! 

Deswegen sind die wöchentlichen Workshops für die Mütter so wichtig, in vielen Fällen ist es die einzige Möglichkeit, aus dem Alltag heraus zu kommen, sich mit anderen auszutauschen und etwas zu machen, dass sie entspannt. Im vergangenen Jahr haben wir unter anderem Spielzeug gehäkelt, einen gemeinsamen Spielenachmittag mit Kindern und Müttern veranstaltet und Adventskalender gebastelt.  

Ein wichtiger Lebensbereich der Kinder ist zweifellos die Schule. Marco geht allerdings schon seit Anfang 2016 auf eigenen Wunsch nicht mehr dorthin und Danya geht noch nicht zur Schule (die Vorschule ab 4 Jahre ist in Chile der Regelfall, ab 5 besteht eigentlich Schulpflicht), da ihre Eltern sich Sorgen machen, dass sie Krankheiten gegenüber zu anfällig sein könnte. Eventuell werden sie sie dieses Jahr anmelden, was aber noch nicht sicher ist. Génesis, Claudio und Juan gehen auf Sonderschulen, bzw. Sergio in die Sonderschulklasse der Dorfschule, in denen sie speziell gefördert werden. Génesis hat dieses Jahr sehr gute Fortschritte gemacht und unter anderem gelernt, sich eine Emailadresse einzurichten, außerdem spricht sie viel mehr. Juan ist von seinen Klassenkameraden zum „besten Kumpel“ gewählt worden und in die nächsthöhere Klasse, die in etwa der 1. Grundschulklasse entspricht, versetzt worden, auf beides waren er und seine Mutter sehr stolz! Claudio wird in nun nachmittags anstatt wie bisher vormittags zur Schule gehen, was sicher eine große Umstellung für ihn bedeuten wird. Die übrigen Kinder besuchen reguläre Schulen (immer Ganztagsschulen), einige von ihnen sind in Fördergruppen. Obwohl Chile offiziell Inklusion anstrebt, ist die Realität noch weit davon entfernt, die meisten staatlichen Schulen sind ohnehin überlastet. 

Zurück zu den Waldbränden: Über 390.000 Hektar Land sind abgebrannt, landesweit haben mehr als 1000 Familien ihre Häuser verloren. An allen Ecken und Enden wurden Spenden für Feuerwehrleute, geschädigte Familien, und durch die Brände verletzte Tiere gesammelt – in extremen Situationen ist die chilenische Bevölkerung sehr hilfsbereit. Leider ist es von dort zum Willen, sich dauerhaft für Veränderungen einzusetzen, damit es nicht nochmal zu so einer Katastrophe kommt, noch ein weiter Weg. Gleiches gilt für eine dauerhafte Solidarität mit benachteiligten Gruppen; einmal im Jahr lässt sich die chilenische Gesellschaft von dramatischen Fällen im Fernsehen bewegen, den Rest des Jahres aber interessiert sie sich nicht für die Rechte von Personen mit Benachteiligungen und ihre Bedürfnisse. Solange sich an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nichts ändert, werden betroffene Familien weiter auf Hilfe angewiesen sein. 

Deswegen ist die regelmäßige Unterstützung durch Projekthilfe Chile für die Familien so wichtig, selbst wenn es nur für eine kleine Anzahl von Familien ist, erleichtert es ihnen doch jeden Monat, ihre Grundbedürfnisse zu decken und etwas mehr am Leben teilzuhaben!